„tl;dr“ – das steht für „too long; didn’t read“. In diesem Jahr war die republica also den langen, tiefschürfenden Themen gewidmet. Wir waren da und haben geprüft, ob unsere Aufmerksamkeitsspanne dafür noch ausreicht.
Die republica in Berlin und die OMR in Hamburg haben sich zeitlich überschnitten. Wohin sollte man da gehen? Für mich war die Entscheidung einfach: Technologien sind wichtig, aber sie dienen letztlich nur als Werkzeuge für den Transport der Inhalte. Und die republica ist der Ort, an dem die digitale Gesellschaft zusammenkommt, um einmal inhaltlich nachzudenken – über das Netz, die Menschen und den ganzen Rest. Hier geht es nicht um die besten Verkaufs-Tools, hier geht es darum, dass wir alle verkauft werden.
Was auf der republica besprochen wird, das prägt die Lebenswelt der Menschen. Das interessiert mich vor allem als Mensch. Aber ist das auch für die PR wichtig? Auf jeden Fall: Wenn ich später im Auftrag von Unternehmen in den Dialog mit Menschen gehe, dann muss ich wissen, was sie beschäftigt, was sie wollen – und was heutzutage vielleicht nicht mehr der richtige Weg sein kann. Und dann kann ich in diesem Sinne auch auf das Unternehmen zurückwirken und es besser beraten.
Das Angebot auf der #rp19 war mit meist etwa fünf bis zehn parallelen Veranstaltungen ungeheuer groß. Im Nachhinein habe ich festgestellt, dass sich meine drei Tage in der „Station“ am Berliner Gleisdreieck jeweils unter ein Motto stellen lassen.
Übrigens: Die meisten erwähnten Sessions sind zu Youtube verlinkt, wo Ihr sie nachgucken könnt.
Tag 1: Internet und Medien – Stoppt den Hass im Internet!
Am ersten Tag der republica 2019 habe ich mich noch recht konkret mit Hass, Trollerei und Mechanismen in den Medien beschäftigt. Interessant war für mich zum Beispiel die Frage nach der „False Balance“ im Panel „Relevanz in digitalen Zeiten“ unter anderem mit Marietta Slomka: Wenn eine einzelne, abstruse Gegenmeinung ähnlich wichtig genommen wird wie die etablierte, große „Wahrheit“ – dann wird die Wirklichkeit verzerrt. Nein, dass es einzelne Klimawandel-Leugner gibt, die keine wissenschaftlichen Fakten vorlegen können, rechtfertigt nicht, zu behaupten, dass der Klimawandel „umstritten“ sei.
Vorschläge, was jeder gegen dagegen tun kann, dass „Populisten uns auf Social Media vor sich hertreiben“, lieferte Eva Horn vom Spiegel:
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Stop making stupid people famous
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Liefert mehr Kontext!
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Keine Reichweite für Idioten
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Seid euch eurer Verantwortung bewusst!
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Werdet endlich kritikfähig!
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Lernt den Unterschied zwischen Kritik und Beleidigung
Die ganze republica hindurch waren übrigens die Berichte von der medialen „Recherchefront“ für mich sehr spannend – ob es nun darum ging, wie die taz die Hannibal-Recherche durchgeführt hat, Correktiv den Cum-Ex-Skandal aufgedeckt hat oder ein Trupp von öffentlich-rechtlichen Reportern das Geschäft mit der „Ware Wahrheit“ enthüllt hat; hier ging es um „wissenschaftliche“ Studien, die im politischen Diskurs verwendet werden, aber letztlich völlig ungeprüft bei pseudowissenschaftlichen Verlagen veröffentlicht wurden.
Sehr anregend, wenn auch vor allem auf der Ebene der konkreten Umsetzung: Wie und mit welchen Tools Luca Hammer Twitter-Empörungswellen analysiert und sehr genau spezielle Meinungs-Cluster identifizieren kann. Hoaxy zum Beispiel kannte ich noch nicht.
Tag 2: Kritik der technisierten Plattform-Ökonomie
Der Soziologe Oliver Nachtwey fuhr am zweiten Tag der re:publica die erste große Attacke auf die Plattform-Konzerne des Silicon Valley und ihre teilweise fragwürdige Ideologie im Hintergrund. Er kritisierte den „Geist des digitalen Kapitalismus“ als „Techno-Religion“. Ein Protagonist der Szene ist Raymond Kurzweil, „Director of Engineering“ bei Google: Er ist überzeugt, die Menschheit erreiche bald die Verschmelzung von menschlicher Intelligenz und Technik – die „Singularität“. Auf die Frage, ob Gott existiere, antwortete Kurzweil: „Not yet.“ Uns allen, so Nachtwey, drohe die Gefahr der „digitalen Herrschaft“ – unter Bezug auf Weber ein „stahlhartes Gehäuse“ aus Algorithmen.
Weniger philosophisch, sondern aus Sicht der Ökonomie analysierte Lutz Frühbrodt von der Uni Würzburg-Schweinfurt „Influencer, ihre Manager und die Mschinerie dahinter“. Ausgehend vom Allgemeinplatz, dass ein Influencer vor allem „authentisch“ sein müsse, zeigte Frühbrodt auf, dass er viel mehr noch ein handfester Unternehmer sein müsse. Die erfolgreichen Influencer benötigten Dienstleister für Kreation, Produktion, Cross-Vermarktung, Events, eCommerce oder die anderen sozialen Kanäle. Die großen Multichannel-Networks, die wie Studio 71 oder Divimove aus der klassischen Medienbranche stammen und zum Beispiel die TV-Vernetzung gut organisieren können, wandeln sich so eher zu „Multiplatform-Channels“. Doch der Markt befindet sich in der Konsolidierung. Mit einem Nettoerlös von 500 Mio. € in Deutschland ist er im Vergleich zum Privat-TV (4,6 Mrd. €) ohnehin klein – aber mit großer Außenwirkung. Nachdem die großen Influencer ihre Angebotsmacht stärker in eigene Hände nehmen, leiden die MCNs, und die Unternehmen wenden sich stärker direkt den Mikro-Influencern zu. Die steckten aber noch in der Hype-Phase und seien nur aufwendig zu organisieren. Frühbrodt hat zu dem Thema die Studie „Unboxing Youtube“ herausgegeben.
Der Internetaktivist Frank Rieger vom CCC hat die Kritik an der Plattformökonomie (die ich, unter uns, so auf dem OMR nicht erwarten würde) im Panel „Cyberwar, hybride Kriegführung und Desinformation“ fortgeführt. Die Angriffe von nationalstaatlichen Gruppen und Konzernen auf die gesellschaftlichen Diskussionen in den Netzwerken und die Manipulationen in der wahrgenommenen Reichweite verzerren den polititschen Alltag und diskreditieren die Arbeit zivilgesellschaftlicher Gruppen auf der ganzen Welt. So hatte auch Angela Merkel zunächst vermutet, dass #FridaysforFuture aus Russland gesteuert werde, da als Erstes von Ruptly berichtet wurde. Für Rieger stellt sich die Frage, ob nicht sogar insgesamt die Aufhebung der Grenzen zwischen individueller Kommunikation und öffentlicher Kommunikation ein Fehler war. Sein Bild: Wir haben 50.000 Leute in ein Stadion gesetzt und mit Megaphonen ausgestattet, damit sie über Abtreibung diskutieren. Öffentliche Kommunikation sei aber stets anfällig für Manipulation. Ein Ausweg könnte die Kommunikation ausschließlich innerhalb geschlossener Kleingruppen sein. (Wobei wir damit meiner Meinung nach das Problem der Blasenbildung noch verschlimmern würden.)
Auch republica-Stammgast Cory Doctorow kritisierte in „It’s monopolies, not surveillance“ die großen Plattformen, die es geschafft hätten, die Monopolgesetzgebung aus dem Weg zu räumen und eine global beherrschende Stellung zu erringen. Dabei sperren uns die Plattformen ein und spionieren uns zugleich aus. Ein sehr ernsthafter Appell, sich von Google, Facebook, Apple und Amazon zu verabschieden und deren Macht endlich wirksam zu beschneiden.
Tag 3: Retten wir den Planeten!
Die „Klimashow vollehalle“ wollte vor allem Mut machen, selbst etwas gegen den Klimawandel zu tun – anhand von konkreten Vorbildern, normalen Menschen wie Du und ich, die aktiv geworden sind. Die Spielszenen waren jetzt nicht so mein Ding, aber nach dem alarmierenden Einstieg, der einen mit richtig schlechten Gefühlen zurückließ, tauchte doch eine Perspektive auf. Vielleicht kein klarer Ausweg, aber doch zumindest der Impuls, selbst etwas am eigenen Verhalten zu ändern und die Aktivisten zu unterstützen. Ganz klar waren am Ende drei Bereiche, in denen wir alle was tun müssen: weniger Autofahren, Fliegen, Fleischkonsum.
Die zugehörigen Fakten gab es später noch aus erster Hand auf der ganz großen Bühne: Johan Rockström, Direktor des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, skizzierte die erschreckenden Erkenntnisse, die die Wissenschaft inzwischen zweifelsfrei errechnen und belegen kann. Wir verlassen gerade die lineare ökologische Entwicklung, die uns im Holozän für 10.000 Jahre eine relativ stabile Umwelt beschert hat. Sie ermöglichte uns die „Erfindung“ der Landwirtschaft, die die wichtigste Basis für die außerordentliche Entwicklung der Menschheit war. Heute befinden wir uns am „Tipping Point“, am Startpunkt für exponentielle Entwicklungen, die nicht mehr umkehrbar sind. Selbst wenn die angestrebten Grenzwerte des Pariser Abkommens, also ein Anstieg der Temperaturen um 1,5 bis 2 Grad, eingehalten würden, wären zum Beispiel die Korallenriffe weltweit wohl nicht mehr zu retten. Zum ersten Mal beeinflusst der Mensch direkt den Zustand des Planeten – willkommen im neuen Zeitalter, im Anthropozän.
Zwei Momente aus der Fragerunde mit Herrn Rockström haben mich besonders beeindruckt. Der eine Fragesteller beklagte sich, dass ihn nun eine Klimadepression plage. Die Antwort: „I can understand that you are depressed, but i‘d rather want you to be angry.“
Der zweite Fragesteller war ein Jugendlicher, offensichtlich aus der #FridaysforFuture-Bewegung. Er wollte wissen, was er denn seinen Eltern sagen könne, warum es berechtigt sei, dass er jeden Freitag die Schule schwänze. Rockström sagte, dass er und seine Generation ihre Hausaufgaben gemacht hätten. Nun sei es an den Erwachsenen, etwas zu tun. Der folgende Applaus der ganzen Versammlung war spürbar eine Würdigung, ein Dankeschön an die jugendlichen Aktivisten von #FridaysforFuture – Gänsehautmoment.
Übrigens hat Sascha Lobo seinen Vortrag „Realitätsschock“ ebenfalls mit einem Bezug auf die junge Bewegung beendet. Er zitierte einen Tweet von Greta Thunberg:
tl;dr: Auf der republica werden die drängenden Probleme der Gegenwart diskutiert. Der Besuch ist bereichernd.
(Autor: Tilo Timmermann)